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Geschichte
„Ob der Philipp heute still wohl am Tische sitzen will …
Er gaukelt und schaukelt,
er trappelt und zappelt
auf dem Stuhle hin und her.
„Philipp, das missfällt mir sehr!“
Zappel Philipp
Bis in das 19. Jahrhundert sind Berichte über hyperkinetische Kinder sehr selten. Historisch wird als Beginn der klassischen Beschreibung von ADHS Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter-Buch aus dem Jahr 1844 gesehen. Der praktische Arzt und Geburtshelfer hatte ein leeres Schreibheft gekauft, Bilder gezeichnet und Reime gebildet und die Geschichten um den Zappel-Philipp, den bösen Friederich und die schwarzen Buben seinem dreijährigen Sohn zu Weihnachten geschenkt. Häufig wird dargestellt, Hoffman selbst habe unter dem Zappelphilipp-Syndrom gelitten. Inwieweit Hoffmann als Erstbeschreiber der ADHS gelten kann oder ob er „nur“ Unarten eines zappeligen und unaufmerksamen Kindes einer bürgerlichen Familie des 19. Jahrhunderts beschrieben hat, wird kontrovers diskutiert.
In den folgenden Jahren begab man sich auf die Suche nach den Ursachen. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatten längst biologische und somatische Erklärungen für psychische Phänomene Einzug in die Medizin gehalten.
Kindern, die „keinen Augenblick Ruhe halten . . . und gar keine Aufmerksamkeit zeigen“, wurde 1845 von dem Berliner Psychiater Wilhelm Griesinger (1817–1869) eine „nervöse Konstitution“ zugeschrieben , die zudem unter einer gestörten Reaktion des Zentralorgans auf die einwirkenden Reize leiden. Er bezeichnete das Gehirn als ein „psychisches Organ“ und seine Funktionsstörungen als „psychische Krankheiten“.
H. Neumann sieht 1859 die Ursache der gesteigerten Unruhe in einer zu schnellen Entwicklung der Kinder, die er auch als Hypermetamorphose bezeichnete. Der Engländer Henry Maudsley (1835–1918) ordnet 1867 die unruhigen Kinder zur Krankheitsgruppe des „affektiven oder moralischen Irreseins“, der Deutsche Hermann Emminghaus (1845–1904) führt 1878 die Symptomatik auf „Vererbung und Degeneration“ zurück. Der amerikanische Neurologe George Miller Beard (1839–1883) brachte im Jahr 1869 die Bezeichnung „Neurasthenie“ für Zustände reizbarer Schwäche in die Diskussion.
In den Vorlesungen „Der Arzt als Erzieher des Kindes“ (1908) behauptet der Berliner Kinderarzt Czerny, der Charakter eines Kindes hängt vom Gesundheitszustand und der Erziehung ab. „Großer Bewegungsdrang, mangelnde Ausdauer im Spiel und bei jeder Beschäftigung, Unfolgsamkeit und mangelhafte Konzentrationsfähigkeit der Aufmerksamkeit beim Unterricht.“ Diese Kinder fallen nach Czerny in die Gruppe der „schwer erziehbaren Kinder“.
Der englische Pädiater George Frederick Still (1868–1941) bezeichnet 1902 die Unruhe der Kinder als „moral defect“ und sieht darin eine anormale Unfähigkeit zur ausdauernden Aufmerksamkeit bei normaler Intelligenz.
Als Zufallsbefund entdeckte der Amerikaner Bradley 1937 bei der Therapie verhaltensgestörter Kinder, eine Beruhigung seiner Patienten nach Gabe des Stimulans Benzedrine. 1940 wurde dann Methylphenidat synthetisiert und in den 1960ern als Ritalin vermarktet. Im Folgenden reichten die begrifflichen Angebote von „minimal brain damage syndrome“ über „minimal brain disorder“ bis hin zu „minimal brain dysfunction“ . Multifaktorielle Erklärungsansätze beinhalteten Formen frühkindlicher Hirnschädigungen, genetische Faktoren (Vererbung) und gesellschaftliche Veränderungen.
Seit den 90er Jahren spielen vor allem neurobiologische Erklärungsansätze eine große Rolle. Es konnte gezeigt werden, dass ein Ungleichgewicht bzw. ein Dysregulation bestimmter Botenstoffe im Gehirn zu Verhaltensauffälligkeiten führt. Insbesondere Dopamin scheint bei ADS/ADHS betroffen zu sein. Jedoch ist die Ausprägung noch von weiteren Faktoren abhängig, wobei insbesondere familiäre und gesellschaftliche Einflüsse zu berücksichtigen sind.
Auch in aktuellen Diskussionen gibt es verschiedene Positionen und Ansichten über Ursachen und Behandlungsstrategien bei ADS/ADHS. Inwieweit es sinnvoll ist, nach einer einheitlichen Ursache zu suchen bleibt fraglich. Vor allem zwei „Lager“ scheinen sich zu bilden: zum einen Verfechter des neurobiologischen Ansatzes sowie der prinzipiell medikamentösen Therapie und zum anderen Vertreter der Auffassung, nur Erziehung des Kindes und Veränderung des Umfeldes seien die einzige Therapieoption. Die meisten Therapieformen liegen heutzutage dazwischen, wobei vor allem die individuellen Probleme eines jeden ADS/ ADHS Kindes Berücksichtigung finden sollten.
aktualisiert am:  09.09.2008